Trauern ist ein Lernprozess
Dieser Artikel stammt aus unserem Spendermagazin «das Gehirn». Unsere Zeitschrift «das Gehirn» erscheint viermal im Jahr und ist für Spenderinnen und Spender der Schweizerischen Hirnliga kostenlos. Lesen Sie weitere spannende Beiträge, indem Sie hier ein Probeexemplar bestellen.
Der Verlust eines nahestehenden Menschen hat tiefgreifende Auswirkungen. Die Psychologin und Hirnforscherin Mary-Frances O’Connor hat in ihren Studien gezeigt, was dabei in unserem Gehirn passiert: Wir lernen.
Verlieren wir einen geliebten Menschen, kann es Monate bis zu mehreren Jahren dauern, bis man diesen Verlust verarbeitet hat. Die Neurowissenschaft zeigt: Trauer ist mit einer umfassenden Umstrukturierung der neuronalen Verbindungen verbunden. Der Verlust eines geliebten Menschen wird als das Fehlen eines wesentlichen Teils des eigenen Selbst wahrgenommen. Trauern ist demnach nicht nur ein emotionaler, sondern auch ein neuronaler Lernprozess. Doch was geschieht in dieser Zeit im Gehirn?
Unser Gehirn baut Bindungen auf
Wenn uns ein Mensch sehr nahesteht, entsteht in unserem Gehirn eine Nervenzellverbindung, welche die persönliche Bindung zu dieser Person widerspiegelt. Dies konnte die US-amerikanische Forscherin Mary-Frances O’Connor in ihren Studien nachweisen. Das Gehirn integriert eine nahestehende Person physisch im Gehirn, was dazu führt, dass das eigene Selbstbild und das dieser Person zu einer funktionierenden Einheit zusammengefasst wird.
Darüber hinaus schafft unser Gehirn Modelle der Zuweisung und entwickelt Muster, die eng an Erwartungen geknüpft sind. Das Gehirn ist darauf ausgelegt, Vorhersagen über sich und die Welt zu treffen. Wenn wir beispielsweise täglich neben unserer Partnerin oder unserem Partner aufwachen, erwarten wir, dass dies auch am nächsten Tag so sein wird. Diese Vorhersage wird als Normalzustand wahrgenommen, und das Wiedersehen nach einer Trennung – sei es nur für einige Stunden – führt zur Freisetzung von Hormonen wie Oxytocin und Dopamin. Diese Stoffe helfen, Stress abzubauen und Wohlgefühl zu erzeugen.
Doch der Tod eines Partners durchbricht diese automatischen Vorhersagen – und stellt das Gehirn somit vor eine Herausforderung. Dieser «Fehler» in den Vorhersagen führt zu emotionalen Stressreaktionen, und ist somit Bestandteil des Trauerprozesses.
Nach einem Verlust lernen wir
Die Herausforderung für das Gehirn liegt nun darin, den Widerspruch über den Verlust dieser Person aufzulösen. Auf der einen Seite erinnern wir uns an konkrete Ereignisse, wie etwa an die Beerdigung dieses Menschen und wir verstehen sehr wohl, dass die Person nicht mehr zurückkehren wird. Auf der anderen Seite ist diese Person zu einem physischen Teil von uns geworden, den wir nicht von heute auf morgen auflösen können. Wir treffen also immer noch dieselben Vorhersagen. Das Gehirn muss Schritt für Schritt die Vorhersagen über die Rückkehr des Partners ändern und erkennen, dass ein Wiedersehen nicht mehr möglich ist. Dies ist ein Lernprozess und erfordert eine fortlaufende Konfrontation mit der neuen Realität. Das wiederholte Erleben der Abwesenheit des geliebten Menschen hilft dem Gehirn, seine Vorhersagen zu aktualisieren und neue neuronale Verbindungen zu knüpfen.
Erfahren Sie mehr darüber, wie wir nach einem Verlust lernen, in unserer neusten Ausgabe «das Gehirn» 4/24.