Ordnung und Chaos
Dieser Artikel stammt aus unserem Spendermagazin «das Gehirn». Unsere Zeitschrift «das Gehirn» erscheint viermal im Jahr und ist für Spenderinnen und Spender der Schweizerischen Hirnliga kostenlos. Lesen Sie weitere spannende Beiträge, indem Sie hier ein Probeexemplar bestellen.
Wer kennt es nicht, das wohlige Gefühl von Zufriedenheit, wenn man nach getaner Arbeit in der frisch aufgeräumten Wohnung steht? Tatsächlich weiss auch die Hirnforschung: Aufräumen hat erwiesenermassen positive Effekte auf unser Gehirn. Doch auch ganz ohne Chaos geht es nicht – und beide Extreme haben negative Auswirkungen auf unsere Psyche.
Aufräumen macht grosszügig
Nicht ohne Grund sind Aufräum-Profis wie der TV-Star Marie Kondo so erfolgreich. Kondo schreibt Bücher und leitet Kurse darüber, wie man Ordnung in sein Leben bringt. In ihren Videos besucht die Japanerin Menschen, die ordentlicher leben möchten. Sie hilft ihnen dabei, sich systematisch von überflüssigem Ballast zu trennen – und nach getaner Arbeit sind die Teilnehmenden meist überglücklich mit ihrer neuen Ordnung.
Die Hirnforschung bestätigt dieses Phänomen: Wer ordentlich ist, tut Körper und Geist meist etwas Gutes. Verschiedene Studien konnten zeigen, dass man in einem aufgeräumten Umfeld fokussierter und entspannter arbeitet. In einer ordentlichen Umgebung wird messbar weniger Cortisol produziert, ein Hormon, das Stress verursacht. Regelmässiges Aufräumen hilft so, das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Depressionen zu verringern. Und beim Aufräumen schüttet das Gehirn sogar Serotonin aus, eines der sogenannten «Glückshormone».
Ausserdem scheint Ordnung prosoziales Verhalten zu fördern. Ein Experiment der University of Minnesota von 2013 hat Teilnehmende in aufgeräumten und chaotischen Settings dazu aufgefordert, fiktive Geldbeträge zu spenden. Wer sich in einem aufgeräumten Umfeld befand, spendete signifikant höhere Beträge als jene Probanden in chaotischem Umfeld.
Wenn das Chaos überhandnimmt
Zu viel Chaos kann hingegen krank machen. Immerhin rund 2-5 % der Menschen in Europa dürften laut Schätzungen vom so genannten «pathologischen Horten» betroffen sein. Diese Erkrankung ist umgangssprachlich auch als «Messie»-tum bekannt und steht seit 2013 als Diagnose im Diagnostischen und Statistischen Manual psychischer Störungen (DSM-5). Menschen, die pathologisch horten, sind nicht imstande, sich von Gegenständen zu trennen, auch wenn ganze Räume dadurch unbewohnbar werden.
Eine Frage der Kreativität
Heisst das, dass wir alle möglichst bald einen Kurs bei Marie Kondo besuchen sollten? Nicht ganz – denn auch zu viel Ordnung schadet der Psyche. Ein sehr ausgeprägter Ordnungssinn kann zu einer Zwangsstörung führen. Häufig geht ein solcher Ordnungszwang mit einer Depression einher.
Und – etwas überraschender: Auch Unordnung hat Vorteile fürs Gehirn. Dies vor allem dann, wenn neue Ideen gefunden werden sollen. Kreative Menschen gelten oft als chaotisch. Und Studien konnten belegen, dass das auch umgekehrt gilt: Ein chaotisches Umfeld fördert die Kreativität. So wurden die Teilnehmenden einer Studie der University of Minnesota aufgefordert, möglichst viele Ideen zu notieren, was man mit einem Tennisball machen kann. Die Teilnehmenden sassen dabei entweder einem sehr ordentlichen oder einem sehr chaotischen Raum. Das Ergebnis: Die Einfälle der «Chaos»-Gruppe wurden im Anschluss von einer nicht-eingeweihten Jury als signifikant kreativer bewertet.
In einem weiteren Versuch derselben Experimentreihe wählte die Gruppe, die von Chaos umgeben war, auf einer Speisekarte Getränke aus, die von der Jury als deutlich weniger konventionell eingestuft wurden. Hieraus schlossen die Studienleiter, das unordentliche Umfeld mache auch offener und experimentierfreudiger.
Weder Ordnung noch Chaos allein sind also ein gutes Mass für körperliches und psychisches Wohlbefinden, Gesundheit oder Kreativität. Erst die Synthese beider Zustände macht uns ausgeglichen und empfänglich für die vielen chaotischen Impulse, denen wir täglich ausgesetzt sind.